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Begegnung mit Mahashakti

Es war vier Uhr nachmittags und Mahaprabhuji hielt - wie jeden Tag - Satsang, als eine sehr alte Frau zu uns kam. Ich hielt sie für mindestens hundert Jahre alt. Sie war wie ein Mann gekleidet und trug eine silberne Fußspange. Zum Erstaunen aller erwies sie Mahaprabhuji gemäß alter Sitte ihre Ehrerbietung, indem sie ihn siebenmal umkreiste und sich daraufhin einundzwanzigmal vor ihm bis zur Erde niederbeugte. Niemand von uns hatte sie vorher je gesehen, und wir rätselten, wer sie wohl sei. Körperlich wirkte sie schwach und gebrechlich, doch besaß sie offenkundig große Geisteskraft und von ihrem Antlitz ging ein Leuchten aus. Da sie mit Mahaprabhuji in einem fremden Dialekt redete, konnte wir nur bruchstückhaft verstehen, was sie sprachen. Mahaprabhuji kannte sie offensichtlich, denn er begrüßte sie mit den Worten:

"Sei willkommen Mataji![2] Nach so langer Zeit hast du endlich doch hierher gefunden?"

Sie erwiderte: "Nur Deine Gnade brachte mich hierher."

Danach konnte ich der Unterhaltung nicht mehr folgen und bat daher Mahaprabhuji um Erlaubnis, Holz für den Feuerplatz sammeln zu gehen. Als ich mich erhob, bedeutete mir die alte Frau, daß sie mich begleiten wolle. Ich sagte:

"Mutter, ich fürchte, du wirst nicht mit mir Schritt halten können, denn ich muß mich beeilen, um zum Gebet wieder zurück zu sein."

"Wir werden sehen", sagte sie nur und verließ mit mir den Ashram.

Wie verblüfft war ich, daß entgegen meiner Vermutung ich es war, der bald hinter ihr zurückblieb. Selbst im Laufschritt gelang es mir nicht, sie zu erreichen. Sie schien genau zu wissen, wohin ich gehen wollte, denn sie ging zielstrebig in die von mir angestrebte Richtung und blieb genau an dem Ort stehen, den zu erreichen ich im Sinn gehabt hatte, um auf mich zu warten. Als ich außer Atem ankam, lächelte sie mir zu und sagte:

"Siehst du, trotz deiner Jugend konntest du mich nicht einholen."

Ich brauche nicht zu sagen, wie sprachlos ich war. Umso begieriger war ich, zu erfahren, wer sie wohl sei. Als ich das Feuerholz gesammelt hatte, kehrten wir zum Ashram zurück.

Am Abend nach dem Gebet und Satsang ging Mataji in den Hof hinaus, breitete ihre Decke in der Nähe des Brunnen aus und versank in tiefe Meditation. Die ganze Nacht lang saß sie unbeweglich in Meditationsstellung; zuweilen hörte ich sie OM und Mahaprabhujis Namen singen.

In dieser Nacht versah ich den Dienst bei Mahaprabhuji und nützte die Gelegenheit, ihn nach dem Namen des seltsamen und wunderbaren Gastes zu fragen.

"Es ist Mahashakti Mateshwari, die ewige Göttliche Shakti und Mutter. Wenn sie es will, kann sie mit ihrem kleinen Finger Berge versetzen."

Um vier Uhr früh gab Mahaprabhuji mir die Anweisung, eine rote Decke neben seinem Bett auszubreiten und Öllampen und Räucherstäbchen anzuzünden.

"Die Göttliche Mutter wird in wenigen Minuten in diesem Raum erscheinen."

Eben als ich fragen wollte, ob ich die Türe öffnen solle, wurde der ganze Raum von rotem Licht erfüllt, und in dem Licht erschien die Göttliche Mutter in der strahlenden Gestalt der Göttin Tripura Sundari - Göttin der ewigen Jugend und Schönheit. Sie verbeugte sich vor Mahaprabhuji und ließ sich dann neben seinem Bett nieder.

Mahaprabhuji begrüßte sie:

"Sei willkommen, Göttliche Mutter! Du bist die allgegenwärtige, ewige, Göttliche Shakti. Der ganze Kosmos ist Deine Schöpfung. Du verkörperst die drei Gunas und die fünf Elemente, die Kraft der Kundalini und die Chakras. Den Vortrefflichsten kannst Du zu Fall bringen, wenn durch Deine Maya Stolz und Ego in ihm erwachen. Durch Dich kann ein König zum Bettler und ein Bettler zum König werden.

Mit zahllosen Namen wirst Du verehrt: als Gayatri, Sarasvati, Sati, Sita, Radha, Lakshmi, Brahmani, Amba, Ashapura, Nava Durga, Kali, Chamunda, Minakshi, Dakini, Shakini, Vishva-Mohini, Bhuvaneshvari, Bageshvari und viele andere mehr. Dein Reittier ist der mächtige Tiger[3]. Dein Lila ist unendlich und unergründlich, unbeschreiblich und grenzenlos. Niemand vermag Dich in Deiner Fülle zu erfassen, zu erleben. Oh Mateshwari, Göttliche Mutter, sag mir, was ich für Dich tun kann."

Mateshwari lächelte,beugte ihr Haupt und sprach zu Mahaprabhuji:

"Du bist Vishwa Deep, der Herr aller Welten. Durch Dich wurde in allen drei Zeiten - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - den Menschen das Licht der Weisheit übermittelt. Nur Du allein lebst in den Herzen aller Wesen. Ohne Dein göttliches Licht kann die Unwissenheit nicht überwunden werden, wie Du in einem Bhajan sagtest:

Wie ein Gegenstand, mag er auch vor dir liegen,
unsichtbar bleibt, solange kein Licht auf ihn fällt,
so ist die Erkenntnis der Wahrheit unmöglich
ohne die Erleuchtung durch den Satguru.

Du hast recht, ich kann den Menschen alles schenken, was die Maya zu geben vermag: Riddhis, Siddhis, Reichtum und Macht. Ich kann erschaffen und zerstören. Doch, oh Herr, Maya bindet nur - dies ist das unveränderliche Gesetz, dem ich gehorche. Die Befreiung vermag ich meinen Verehrern nicht zu geben. Nur durch den Segen des Satguru können sie Befreiung, unwandelbare Glückseligkeit und immerwährenden Frieden erlangen.

Brahma, Vishnu, Shiva, Rama, Krishna und andere göttliche Inkarnationen, all die verehrungswürdigen Götter und Göttinnen sollen verehrt werden, indem sie dem Satguru dienen und stets auf ihn meditieren.

Maharani Mira, die Inkarnation Radhas, sang in einem Bhajan:

Immerdar weilen meine Gedanken bei meinem Guru;
nichts in der Welt kann mich verlocken,
denn diese ist nur eine Illusion, ein Traumgebilde.
Der Ozean der Welt ist für mich ausgetrocknet,
ohne Mühe kann ich ihn überqueren.
Mira sagt: Durch die Gnade meines Guru
bin ich von allem Leid, von Tod und Geburt befreit.

In einem anderen Bhajan sagte Mira:

Mein Guru schenkte mir das kostbarste Juwel:
den Namen Gottes.

Sein Wert ist unbezahlbar und wird täglich noch vermehrt.

Oh Herr der Barmherzigkeit! Dem Geheiß des Paramatma folgend spende ich den Heiligen, Rishis, Yogis und anderen großen Inkarnationen Siddhis und reichen Segen gemäß der Kraft ihrer Verehrung und der Intensität ihrer Übungen. Doch nicht ihnen gehorche ich, sondern allein dem Willen des Höchsten. Wie das Licht der Fackel sich nicht mit dem Glanz der Sonne messen kann, so können Heilige, Mahatmas, Rishis und Munis sich nicht mit Vishwa Deep vergleichen.

Du bist Brahman, der ewige, unwandelbare, unzerstörbare Eine. Du bist Ursprung und Ziel aller Lebewesen. Ohne die Gnade des Guru kannst Du nicht verwirklicht werden. Durch die Kraft der Maya vollzieht sich Deine Manifestation. Das unendliche Spiel des Universums ist mein Werk, doch Du allein bist Leben und Bewußtsein darin. Ich bin nicht ohne Dich. Brahman und Maya sind eins - nur wenige können dieses Geheimnis verstehen.

Wie ein Vogel nur mit zwei Flügeln zu fliegen vermag, kann ein Ergebener wahren Frieden und Befreiung nur erlangen, wenn er Mahamaya und Gurudeva, dem Höchsten Selbst, seine Verehrung gibt.

Im Zeitalter des Kali Yuga leiden die Lebewesen unter großen Schmerzen, Sorgen und Widrigkeiten. Sie sind Opfer ihrer Illusionen und Irrtümer; Ungerechtigkeit, Lüge und Betrug beherrschen die Welt. Um Deine Ergebenen zu retten und die Verirrten und Gefallenen zu erlösen, bist Du, Ozean der Gnade und Barmherzigkeit, wieder auf Erden erschienen. Ich bitte Dich, sei gnädig zu allen, die mich verehren und bei Dir reinen Herzens Zuflucht suchen. Schenke ihnen durch Deinen Segen ein glückliches Leben und  bewahre sie vor Leid und Sorge, bis sie schließlich in der Vereinigung mit Dir Befreiung erlangen."

Dieses Gespräch dauerte etwa eine Stunde lang, und nur Mahaprabhuji, Mateshwari und ich waren anwesend dabei. Als die anderen Schüler kamen, um Mahaprabhuji zu begrüßen, nahm Mataji wieder die Gestalt der alten Frau an.

Und bevor Mahaprabhuji mit seinem Satsang begann, wandte sie sich mit folgenden Worten an die Besucher:

"Ihr Unwissenden! Ihr seht vor euch Gott selbst und seid doch unfähig, Ihn zu erkennen. Ihr kommt nur her, um Erfüllung weltlicher Wünsche zu suchen."

Dann verbeugte sie sich vor Mahaprabhuji, um sich von ihm zu verabschieden. Als sie sich einige Meter weit entfernt hatte, löste sich ihre Gestalt plötzlich auf und verschwand gleich einer Kerzenflamme, die ausgeblasen wird.

 


[1]Mahashakti = Göttliche Mutter (maha = groß, Shakti = Kraft, Energie)

[2]Mataji = Mutter

[3]Der Tiger symbolisiert den menschlichen Geist.

 

Nächstes Kapitel: Befreiung einer Schlange

Voriges Kapitel: Mauna Satsang

Übersicht: Mein Leben mit Mahaprabhuji

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