Skip to main content

subpages head the author ger

Die Ergebenheit eines Tigers

Als Mahaprabhuji einige Tage in Guru Sikhar am Berg Abu verbrachte, begleiteten ihn ein paar Schüler, unter denen auch ich mich befand. Früh am Morgen brachen wir von Guru Sikhar auf, um nach Achalnath Mahadeva zu gehen. Der Weg führte durch hügeliges und dicht bewaldetes Gebiet, in dem wilde Tiere lebten. Wir Schüler waren ängstlich und fürchteten uns, als in einiger Entfernung Bären zu sehen waren. Mahaprabhuji sprach uns Mut zu und sagte, wir sollten ohne Furcht weitergehen.

In einem besonders dichten Waldstück blieb Mahaprabhuji stehen und sprach:

"Hier machen wir Rast. Setzt euch unter diesen Baum. Ich werde mich dort drüben hinbegeben und meditieren. Sollte ein wildes Tier auftauchen, bleibt ganz ruhig und fürchtet euch nicht."

Mahaprabhuji ließ sich unter einem Ashokabaum nieder, und wir setzten uns unter den Baum, den Mahaprabhuji uns angegeben hatte. Da hörten wir nach kurzer Zeit in der Nähe das Fauchen eines Tigers. Wir wurden unruhig, aber Mahaprabhuji rührte sich nicht und saß in Meditation versunken. Jetzt brach ein gewaltiger Tiger aus dem Dickicht hervor und lief direkt auf Mahaprabhuji zu. Wir waren zu Tode erschrocken und kletterten in unserer Angst auf den Baum, unter dem wir gesessen hatten.

Kurz vor Mahaprabhuji blieb der Tiger stehen. Mahaprabhuji saß ganz ruhig da und blickte den Tiger nur an. Da verbeugte dieser sein Haupt vor ihm und verschwand  wieder im Dschungel.

Voll Staunen hatten wir die Szene verfolgt. Mahaprabhuji rief uns zu sich und fragte lächelnd:

"Warum hattet ihr Angst? Ich sagte doch: wenn ich bei euch bin, braucht ihr euch nicht zu fürchten. Niemals wird dem, der in der Gnade des Guru steht, von einem Lebewesen ein Leid angetan."

Dann erklärte Mahaprabhuji:

"Ich wollte euch die unzulängliche Schwäche der Furchtsamkeit gegenüber der untrüglichen Kraft der Liebe vor Augen führen. Wäre ich so ängstlich wie ihr gewesen, so hätte mich der Tiger sofort angefallen und zerrissen. Angst ist ein Zeichen von Hilflosigkeit - ihr seid im Irrtum, wenn ihr meint, ihr wäret hilflos. Das Gegenteil von Angst ist Liebe. Laßt in euch Liebe und rechtes Gefühl frei fließen, dann werden Angst und schlechte Gedanken verschwinden. Eure Liebe soll so stark sein, daß ihr sie auch auf andere übertragen könnt. Selbst wilde Tiere werden euch nichts zuleide tun, wenn sie eure Liebe in sich spüren."

Wir wußten, daß wir etwas sehr Wichtiges gelernt hatten und Zeugen eines Beweises der wunderbaren Kraft der Liebe geworden waren. Dieses Ereignis sollte für uns als Gleichnis dienen. Denn es geht nicht darum, echte Tiger oder Löwen zu umarmen; tretet den wilden Tieren des Unterbewußtseins - den Ängsten, Hemmungen, Aggressionen, zerstörerischen Gefühlen und schlechten Erinnerungen - ohne Furcht entgegen, betrachtet sie in Ruhe und werdet ihrer mit Liebe Herr. Dann macht ihr die Erfahrung, daß sie euch nicht länger bedrohlich und quälend erscheinen, und daß ihr - wie durch ein Wunder - auch in der äußeren Welt Liebe und Verständnis begegnet.

 

 


 

Nächstes Kapitel: Wandern, oder besser seßhaft sein?

Voriges Kapitel: Am Ufer eines Flusses

Übersicht: Mein Leben mit Mahaprabhuji

COPYRIGHT © 2016-2023 LILA AMRIT. ALL RIGHTS RESERVED